Interview mit Achtsamkeitsautorin Nicole Walter: Familientradition und achtsame Wortwahl

Schon von Kindheit an ist Nicole Walter von Büchern und Phantasie umgeben. Heute schreibt sie – in guter Tradition nach Mutter und Großmutter – Drehbücher und Romane. Ganz nebenbei hat sie ein neues Genre erfunden: Achtsamkeitsromane.

„Ich wollte die für mich wichtige Erfahrung der Achtsamkeit nicht in einem Sachbuch weitergeben, sondern eine Geschichte achtsam erzählen“

Frau Walter, Sie haben mit Ihren Büchern quasi ein neues Genre geschaffen. Wie kommt man auf die Idee, Achtsamkeitsromane zu schreiben?

In jedem meiner Romane steckt ein wenig von der Lebensphase, in der ich mich gerade befinde. Bevor ich „Das Glück umarmen“ schrieb, bin ich auf die Achtsamkeit gestoßen. Es war eine Zeit, in der ich durch die pflegerische Unterstützung meiner Mutter an den Rand meiner Kräfte gelangt bin. Sie war Schmerzpatientin und allmählich hatte sich ihr Schmerz auch in meinem Körper und in meiner Seele manifestiert. Ich habe also nach etwas gesucht, das mir Kraft geben sollte. Durch einen Freund bin ich auf das Standardwerk von Jon Kabat-Zinn gestoßen, den Begründer des MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) – ein Programm, in dem man Schritt für Schritt durch bestimmte Meditationen, Atem- und Yogaübungen die Achtsamkeit erlernt, sich entspannt und auf diese Weise Stress, Schmerzen und Beschwerden abbauen kann. Ich habe nach dem Lesen von immerhin über 700 Seiten ein Seminar besucht, die Übungen erlernt, die nicht nur mir, sondern auch meiner Mutter geholfen haben. Diese für mich wichtige Erfahrung wollte ich nicht in einem Sachbuch weitergeben – ich bin ja keine Therapeutin bin –, aber doch irgendwie meinen Lesern vermitteln. So bin ich darauf gekommen, eine Geschichte achtsam zu erzählen.

Was zeichnet Ihre Romane aus, und was unterscheidet sie von anderen?

In jedem meiner Romane ist etwas verarbeitet, das ich gerade wieder über das Leben gelernt habe, ohne dass die Geschichte autobiografisch ist. „Das Leben drehen“ erzählt, dass man im Leben schon fast tot und im Sterben sehr lebendig sein kann. Trotz des ernsten Themas – Leben und Sterben – ist die Geschichte von der Ärztin Marlene und der Hutmacherin Amelie, die immer gegen den Wind fegt, heiter erzählt und eine Verneigung vor dem Geschenk Leben. „Wie Sonne und Mond“ behandelt das Thema Schwestern, vertauschtes Leben und unschuldig schuldig werden. „Regenbogentänzer“ ist mir sehr wichtig, da ich zehn Jahre lang eine Freundin bei ihrer Krankheit „Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis“ begleitet und dadurch erkannt habe, wie groß auch meine Berührungsängste bei psychischen Erkrankungen sind, wie hilflos ich mich oft in ihrer Gegenwart fühle, aber auch wie unglaublich besonders diese Menschen in ihrer Feinfühligkeit und Dünnhäutigkeit sind. In „Regenbogentänzer“ geht es mir darum, Vorurteile und Ängste ab- und eine Brücke aufzubauen zwischen der normalen Welt, was auch immer das ist, und eben dieser anderen Welt der seelischen Erkrankung, die wir nicht wirklich verstehen. Und dann gibt es noch zwei Hunde-Weihnachtsgeschichten, in denen ich einfach die Erlebnisse unseres Tibet Terriers Deleen und unseres Cockerspaniels Penelope verarbeitet habe.

„Erst wenn jemand ganz bei sich ist, kann er auch bei dem anderen sein.“

Warum ist Ihnen das Thema Achtsamkeit wichtig?

Ich bin zutiefst überzeugt, dass man mit angewandter Achtsamkeit besser und vor allem intensiver lebt. Man lernt wieder dem anderen zuzuhören und sich nicht nur in Gedanken schon einen klugen Kommentar zurechtzulegen, der meist auch noch von einem selbst handelt. Die Sinneswahrnehmungen werden aktiviert, der Kontakt zum Körper intensiviert. Wir lernen mit unseren Gedanken umzugehen, „in denen eine Situation oft schlimmer ist, als sie es in der Realität je sein könnte.“ Das stammt nicht von mir, sondern von Mark Twain. Und wir sind da, wo wir immer sein wollen und so selten sind: im Hier und Jetzt. Gerade in einer Zeit, in der Burnout für so viele Menschen zur täglichen Gefahr geworden ist – ich selbst kenne genügend Menschen mit Burnout –, ist das Erlernen von Achtsamkeit ein wichtiges Mittel, um der völligen Kraftlosigkeit und dem Zusammenbruch vorzubeugen. Achtsamkeit hat übrigens nichts mit Egoismus zu tun. Im Gegenteil: Erst wenn jemand ganz bei sich ist, kann er auch bei dem anderen sein.

Was begegnet Ihnen auf Ihren Lesungen?

Ich versuche Lesungen für „Das Glück umarmen“ immer in einer Atmosphäre zu organisieren, in der Menschen miteinander ins Gespräch kommen, da ich nicht nur lese, sondern auch über Achtsamkeit erzähle – bei Kaffee und Kuchen oder einem Glas Wein. Die Erfahrung zeigt, dass noch lange nach der Lesung die Menschen sitzen bleiben und miteinander über das Thema reden, Menschen, die sich vorher nicht gekannt haben. Auch ich erfahre viele ihrer Geschichten und nehme die Gelegenheit wahr, auch noch mal Danke für das Vertrauen zu sagen. Bei „Das Glück umarmen“ liest nicht nur jeder für sich, da kommen die Leut‘ zamm – wie man in Bayern so schön sagt.

Wie leben Sie Achtsamkeit?

Ehrlich? Leider nicht immer. Immer wieder vernachlässige ich die Übungen, die zur täglichen Gewohnheit werden sollten. Dabei reichen oft nur zehn Minuten. Mit der Zeit merke ich, wie ich wieder in alte Verhaltensmuster verfalle, durch den Tag hetze, so schnell, dass der Tag kaum noch hinter mir herkommt. Ich werde nervös, bin ungeduldiger mit mir und meinen Mitmenschen, aber dann erinnere ich mich und weiß, was ich tun muss oder vor allem tun will. Morgens beim Duschen nicht schon an die To-dos denken, sondern das Wasser auf der Haut spüren, den Duft des Shampoos ganz in mir aufnehmen, dann vielleicht in einer Pause einen kleinen Spaziergang machen, bei dem ich meinen Gedanken keine Beachtung schenke. Nur sehe, höre, fühle was ist.  Langsam essen, auch da fühlen und schmecken. Und wenn ich mich eher fallen lassen möchte, dann überlasse ich mich der angeleiteten Achtsamkeits- oder Atemmeditation meiner Lehrerin Mignon von Scanzoni. Achtsamkeit, das ist wissenschaftlich erwiesen, verändert sogar das Gehirn ins Positive. Wir werden konzentrierter, gelassener und empathischer.

Sie schreiben auch Drehbücher. Spielt das Thema Achtsamkeit in Ihren anderen Arbeiten auch eine Rolle?

Nur, wenn „Das Glück umarmen“ oder sein Nachfolgeroman verfilmt werden sollten. Nein, es gibt noch so viele andere Themen, die mich interessieren.

Das Glück umarmen

Nicole Walter ist Autorin in der dritten Generation – nach Großmutter und Mutter. Zunächst als Werbetexterin und Reisejournalistin tätig, schreibt sie heute Drehbücher. Mit der Belletristik hat sie sich nach einer schweren Krise vor zehn Jahren ihren großen Traum erfüllt. Nach ihrem ersten Roman „Das Leben drehen“, das zum Spiegel-Bestseller und ins Ausland verkauft wurde, folgten weitere Bücher wie etwa 2017 „Das Glück umarmen“, der erste achtsam verfasste Roman. Im Frühjahr 2019 erscheint ihr erster Krimi, der im Bayerischen Wald spielt, und ein weiterer Achtsamkeitsroman. Nicole Walter lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.